Meeresspiegelanstieg

Grönlands Eismassen auf der Waage

Text: Sina Löschke

Auf die Waage, bitte!

Der Eispanzer Grönlands ist mehr als viermal so groß wie Deutschland, bis zu 3 100 Meter dick und speichert ausreichend Wasser, um den weltweiten Meeresspiegel um sieben Meter anzuheben. Die Hochwassergefahr an den Küsten steigt demzufolge, je mehr Eis der Koloss verliert. Doch wie lässt sich das Gewicht eines Eisschildes kontrollieren? Mit einer Waage aus dem Weltall.

„Drei, zwei, eins und … Abheben!“ Staubwolken wirbeln auf. Ein Feuerschein erhellt den Himmel als am 22. Mai 2018 auf dem Luftwaffenstützpunkt Vandenberg in Kalifornien (USA) eine Rakete vom Typ SpaceX-Falcon-9 ins Weltall startet. An Bord hat sie die zweite Generation des Satellitensystems GRACE. Die Abkürzung steht für „Gravity Recovery and Climate Experiment“. Frei übersetzt heißt das so viel wie „Schwerefeld-Messung und Klimaexperiment“. Und da es sich um die zweite GRACE-Mission handelt, haben die Projektleiter von der US-amerikanischen Raumfahrtbehörde NASA und dem Deutschen Geo- ForschungsZentrum (GFZ) noch das Kürzel „FO“ für „Follow-On“ an den Namen gehängt. Trotz dieses etwas umständlichen Titels ruhen die Hoffnungen Hunderter Klimaforscher auf den zwei GRACE-FO-Satelliten. Denn das Gespann kann, was mit irdischen Messungen unmöglich ist: Es vermisst innerhalb eines Monats das gesamte Schwerefeld des Planeten. Das heißt, die Satelliten dokumentieren flächendeckend die Massenveränderungen auf der Erde und damit in erster Linie die Umverteilung des Wassers zwischen den Weltmeeren, den Kontinenten und speziell den Eisschilden. Die „Waage im Weltall“ liefert somit Antworten auf zwei der drängendsten Fragen der Klimaforschung: Wie viel Eis verlieren die Eisschilde Grönlands und der Antarktis im Zuge des Klimawandels und in welchen Regionen der Welt steigt infolgedessen der Meeresspiegel? Einer der Forschenden, die den Start der Mission live vor Ort verfolgen, ist Dr. Ingo Sasgen vom Alfred-Wegener-Institut, Helmholtz- Zentrum für Polar- und Meeresforschung (AWI). Der 43-Jährige dokumentiert das Wachsen und Schrumpfen des Grönländischen Eisschildes schon seit der ersten GRACE-Mission (2002-2017). Für die schiere Größe und Mächtigkeit des Eispanzers aber fehlen ihm noch immer die passenden Worte. Vergleiche müssen helfen, das kolossale Eisfeld zu beschreiben. „Der Eisschild und seine angrenzenden Gletscher wären groß genug, nicht nur Deutschland, sondern auch Frankreich, Spanien und Italien auf einen Schlag unter sich zu begraben“ erklärt Ingo Sasgen. Deutschlands höchster Berg, die Zugspitze, würde auf dem zentralen Hochplateau des Eisschildes immer noch 300 Meter tief im Eis versinken. Und sollte alles Eis Grönlands auf einen Schlag schmelzen, würde der globale Meeresspiegel um etwas mehr als sieben Meter ansteigen, weltweit große Küstengebiete überschwemmen und damit dem Lebensraum von Abermillionen Menschen zerstören – auch in Europa.

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Grönlands Eis schmilzt an seiner Oberfläche
Wie drängend das Problem der Eisschmelze auf Grönland heute schon ist, offenbart ein Blick in die GRACE-Statistik: Seit Beginn der ersten Mission im Jahr 2002 haben der Eisschild und seine Gletscher im Durchschnitt jährlich 286 Milliarden Tonnen Eis verloren. „Die Massenverluste kommen vor allem dadurch zustande, dass die Luft über Grönland wärmer wird und dadurch die Intensität und Dauer der Schmelzsaison zunehmen“, sagt Ingo Sasgen. Die Eiskappe Grönlands verliert heute fast doppelt so viel Eis durch Schmelzprozesse an der Oberfläche als noch im Zeitraum von 1960 bis 1990. Damals waren die Eiszuwächse und -einbußen nahezu ausgeglichen. Die Massenverluste durch das Abbrechen von Eisbergen haben bis heute um etwa ein Viertel zugenommen. Grönland liefert mittlerweile den größten Schmelzwasserbeitrag zum aktuellen Anstieg des globalen Meeresspiegels. Dieser beträgt aktuell 3,3 Millimeter pro Jahr, Grönlands Anteil beläuft sich auf fast 0,8 Millimeter. Extrem hohe Schmelzraten registrierte GRACE im Sommer 2012. Damals ließen außergewöhnlich warme Luft und ein anhaltend wolkenloser Himmel Grönlands Eispanzer auf sage und schreibe 97 Prozent seiner Oberfläche schmelzen. Der Eispanzer verlor damals allein im Monat Juli 400 bis 500 Milliarden Tonnen Eis, was zu einem globalen Meeresspiegelanstiegvon mehr als einem Millimeter führte. „Diese Veränderungen hätten wir ohne GRACE niemals beziffern können, weil die 18 Schneeund Eisbeobachtungsstationen auf Grönland nicht ausreichen, um auf den gesamten Eisschild schließen zu können. GRACE ist das einzige Instrument, mit dem solche genauenLangzeitbeobachtungen und Monatsvergleiche der Massenbilanz für den gesamten Eisschild möglich sind“, sagt Ingo Sasgen. Zur Überraschung der Wissenschaftler folgte auf den extremen Schmelzsommer 2012 ein kaltes Jahr, in dem sich die Gesamtmenge des Neuschnees nahezu die Waage hielt mit den Eisverlusten durch Schmelze und Eisbergabbrüche. „Der Trend seit 1990 ist eindeutig – Grönland erwärmt sich und verliert mehr und mehr Eis. Die GRACE-Daten zeigen aber auch, dass die Massenbilanz des Eisschildes stark variiert. Von extremer Schmelze bis hin zu Jahren mit viel Schneefall und wenig Schmelzverlusten ist inzwischen alles möglich“, erklärt der Wissenschaftler.

Das Beste aus zwei Welten
Um genauer zu verstehen, in welchen Regionen der Grönländische Eisschild am schnellsten schrumpft, wird Ingo Sasgen die GRACE-Schwerefeld-Daten mit Radarmessungen des ESA-Satelliten CryoSat-2 kombinieren. Dieser misst die Höhenänderung der Eisfelder Grönlands in einer Auflösung von bis zu fünf Kilometern und kann im Gegensatz zu GRACE, dessen Auflösung nur 400 Kilometer beträgt, einzelne Gletschersysteme abbilden. „Wir nehmen quasi das Beste aus beiden Datensätzen und verheiraten es miteinander, um regionale Unterschiede zu erkennen“, sagt Ingo Sasgen. Das Ziel dieser REKLIM-Arbeit lautet, eine Karte des Grönländischen Eisschildes zu erstellen, die in hoher Auflösung zeigt, wie sich die Eismassen verändern und wie sich die Verlustzonen über die Zeit ausdehnen. Der optimierte Datensatz hilft außerdem, Klima- und Eisschildmodelle zu verbessern. In der Zeit vor GRACE konnten die Wissenschaftler ihre Klimamodelle nur mit den wenigen Punktmessungen der grönländischen Schnee- und Eismessstationen kalibrieren. Dadurch war allerdings nicht sichergestellt, dass die Modelle die Massenbilanz auch richtig berechneten. Heute genügt ein kurzer Abgleich der Modellergebnisse mit den GRACE-Daten, um die Qualität des Modells zu überprüfen. „Es ist wirklich wichtig, dass wir genau wissen, wie viel Eis Grönland verliert. Denn erst, wenn wir diese Verlustraten richtig in den Klimamodellen abbilden können, sind wir in der Lage, die Zukunft des Eisschildes und des Meeresspiegels mit hoher Genauigkeit vorherzusagen“, betont Ingo Sasgen.

Eine Frage der Anziehungskraft
Mithilfe von GRACE das Mehr an Wasser und damit den Meeresspiegelanstieg zu bestimmen, ist aus zwei Gründen deutlich schwieriger, als das Gewicht des Eisschildes zu messen. Zum einen verteilt sich das Schmelzwasser Grönlands auf den gesamten Ozean, dessen Fläche etwa 200-mal so groß ist, wie die des Eisschildes. Das Massesignal wird damit so klein, dass es für GRACE kaum noch messbar ist. Zum anderen wird der Pegelanstieg an einer Küste durch drei Faktoren bestimmt: (1) durch die Menge des zusätzlichen Wassers; (2) durch die temperaturbedingte Ausdehnung des Wassers, und (3) durch jenes Maß, in dem sich das Land eventuell hebt oder absenkt. „GRACE verrät uns anhand der Massenänderungen im Ozean, wohin das Schmelzwasser eines Eisschildes wandert und wie viel Wasser sich vor den Küsten aufstaut. Kombinieren wir diese Daten mit Satellitenmessungen zur Höhenveränderung der Ozeane und mit den Temperaturdaten autonomer, tieftauchender Messsysteme, ergibt sich ein umfassendes Bild des weltweiten Meeresspiegelanstieges“, erklärt Ingo Sasgen. Grob skizziert sieht die Situation derzeit etwa so aus: Wenn auf Grönland das Eis schmilzt, steigt der Meeresspiegel zunächst einmal insgesamt, weil mehr Wasser in den Weltozean gelangt. Durch die Schwerkraft der Erde aber werden diese Wassermassen anschließend umverteilt. Das heißt, Regionen mit geringem Schwerefeld und demzufolge wenig Anziehungskraft bekommen weniger Wasser ab, Regionen mit großer Anziehungskraft dagegen mehr. „Und da sowohl Grönland als auch die Antarktis aufgrund ihrer Eismassenverluste Anziehungskraft einbüßen, sammelt sich das Wasser vor allem in den mittleren Breiten“, erklärt Sasgen. „Die Veränderungen in den Polargebieten betreffen uns in den mittleren Breiten also am meisten.“ Er wartet jetzt gespannt auf die ersten Daten, die GRACE-FO seit Juni 2018 zum Satelliten-Kontrollzentrum in Oberpfaffenhofen funkt und aus denen gegenwärtig Schwerefelder berechnet werden. Basierend auf den neuen Messergebnissen wollen Ingo Sasgen und eine AWI-Kollegin eine statistische Methode zur Vorhersage der grönländischen Eismassenbilanz entwickeln. Für das arktische Meereis funktioniert ein vergleichbarer Ansatz schon ziemlich gut. GRACE-FO wird für dieses Vorhersagen die notwendigen Daten liefen und – wenn alles glattgeht – die Schwerefelder der Eisschilde und Ozeane in den nächsten zehn Jahren verlässlich im Blick behalten. „Diese Daten vom offenen Ozean bis zur Küste hin fortzusetzen, bleibt eine der großen Herausforderungen, die wir in REKLIM zukünftig angehen wollen“, sagt Ingo Sasgen.

VORAUSGEDACHT

„Ich möchte mit GRACE untersuchen, wann die Eismassenverluste auf Grönland und in der Antarktis auf einen Punkt zusteuern, an dem es kein Zurück mehr für das Abschmelzen gibt, egal wie das Klima sich entwickelt. Solche Kipppunkte zu erkennen, ist vor allem in Sachen Meeresspiegelanstieg extrem wichtig.“

INGO SASGEN
Geophysiker am Alfred-Wegener-Institut, Helmholtz-Zentrum für Polar- und Meeresforschung (AWI)

Praxisbezug

26 Zentimeter in 100 Jahren

Die Wasserstände an Niedersachsens Küsten steigen deutlich, aber nicht überall gleichmäßig. Küstenschutzexperte Dr. Andreas Wurpts erklärt, warum der tatsächliche Meeresspiegelanstieg so schwierig zu bestimmen ist und welche Rolle die Forschung für den Küstenschutz spielt.

Wie stark ist der Meeresspiegel an der niedersächsischen Küste bislang gestiegen?

Andreas Wurpts: Diese Frage lässt sich kaum mit nur einer Zahl beantworten, weil sich die Entwicklung des gemessenen Pegelstandes entlang der Nordseeküste von Messstation zu Messstation teils deutlich unterscheidet. Hier auf Norderney, wo der Pegel seit etwa 120 Jahren betrieben wird, fallen die mittleren Tide-Hochwasser heute rund 26 Zentimeter höher aus als noch vor 100 Jahren. Der Pegel des Niedrigwassers dagegen ist nur um 13 Zentimeter gestiegen. Zum Vergleich: Auf Helgoland betrug der Anstieg des Hochwasserpegels 21 Zentimeter pro Jahrhundert, in Wilhelmshaven 29, auf Wangerooge 31 Zentimeter – und man fragt sich zwangsläufig: Warum gibt es da solche Unterschiede?

Haben Sie eine Erklärung dafür?

Dazu läuft derzeit ein Verbundforschungsprojekt, in dem wir versuchen, diese Unterschiede modelltechnisch und statistisch zu erklären und herauszufinden, wie groß der tatsächliche Meeresspiegelanstieg ist. Hier gilt es nämlich mehrere Einflussfaktoren zu bedenken. Zum einen hängen die Pegelstände an der Nordseeküste vom Wind ab. Je nach Wetterlage drückt er das Wasser entweder in unseren Küstenbereich hinein oder schiebt es heraus. Zum anderen wissen wir, dass sich unsere Küstengebiete absenken – und das in einer Größenordnung, die nicht vernachlässigt werden kann. Die Gezeitendynamik hat sich auch dadurch verändert, dass Ästuare für die Schifffahrt vertieft und begradigt worden sind. Die Tatsache, dass der Niedrigwasserpegel langsamer steigt als der Hochwasserpegel, erklärt sich unter anderem dadurch, dass sich die Gezeitenwelle aufgrund der veränderten Wassertiefen heutzutage anders ausbreitet.

Wie weit im Voraus müssen Sie wissen, wie stark der Meeresspiegel steigt, um die Deiche rechtzeitig anpassen zu können?

Das Verfahren, mit dem wir in Niedersachsen die erforderliche Deichhöhe bemessen, basiert auf gemessenen Werten, die wir dauerhaft überwachen und im 10-Jahresturnus überprüfen. Wichtig sind zum Beispiel das mittlere Tide-Hochwasser der vergangenen fünf Jahre sowie der höchste bislang beobachtete Sturmflutwasserstand. Steigt der Meeresspiegel, nimmt auch das mittlere Tide-Hochwasser zu, wodurch der Pegelanstieg automatisch bei der Deichhöhenberechnung mitberücksichtigt wird. Und weil wir wissen, dass sich der Meeresspiegelanstieg beschleunigen wird, kommt neben anderen Annahmen auch noch ein sogenanntes Vorsorgemaß in Höhe von 50 Zentimetern pro Jahrhundert oben drauf. Das entspricht der zweifachen derzeit beobachteten Anstiegsrate. Auf diese Weise erhalten wir eine erforderliche Deichhöhe, die uns formal Sicherheit für die nächsten 100 Jahre geben soll.

Verfolgen Sie trotzdem, welche neuen Erkenntnisse die Wissenschaft zum Meeresspiegelanstieg veröffentlicht?

Das ist eine unserer Kernaufgaben in der Forschungsstelle Küste im NLWKN. Wir tragen die wissenschaftlichen Grundlagen zusammen, verbessern stetig unsere Analysemethoden und bereiten alles anwendungsrelevante Wissen so auf, dass es für die Verwaltung nutzbar wird. Wir arbeiten außerdem aktiv in Verbundforschungsprojekten mit Wissenschaftlern anderer Einrichtungen zusammen und stehen beispielsweise im engen Austausch mit dem Norddeutschen Klimabüro und den Wissenschaftlern am Helmholtz-Zentrum Geesthacht. Solche Kooperationen haben für uns aus verschiedenen Gründen große Bedeutung; beispielsweise, um Ergebnisse aktueller Forschung zeitnah und zielgerichtet in Verwaltungshandeln einbeziehen zu können. Im Gegenzug hege ich stets die Hoffnung, durch diese Zusammenarbeit auch auf Seiten der Wissenschaftler das Bewusstsein für die konkreten Belange der Verwaltung verbessern zu können.

KOMPAKT

  • Mit dem Satellitengespann GRACE und seinem Nachfolger GRACE-FO lassensich die Wanderung des Wassers auf der Erde und somit auch das Wachsen und Schrumpfen der Eisschilde genau verfolgen.
  • Der Grönländische Eisschild und die dazugehörigen Gletscher verlieren im Durchschnitt jährlich 286 Milliarden Tonnen Eis und tragen damit maßgeblich zum Anstieg des Meeresspiegels bei.
  • Die GRACE-Daten helfen außerdem zu bestimmen, wo auf der Welt der Meeresspiegel am deutlichsten steigt – derzeit vor allem in den mittleren Breiten.

Beteiligte Helmholtz-Forschungszentren: AWI, GEOMAR, GFZ, HZG