Fernwirkungen

Wie das Meereis der Arktis unser Wetter beeinflusst

Text: Tim Schröder

Schicksalhafte Fernbeziehung

Berlin liegt näher am Polarkreis als an Barcelona. Deshalb überrascht es kaum, dass die Arktis unser Klima in Mitteleuropa mitbestimmt. REKLIM-Forscher zeigen jetzt, wie der Rückgang des arktischen Meereises auch das Wetter in Deutschland verändert.

„Im Grunde haben wir es heute mit einer neuen Arktis zu tun“, sagt Prof. Klaus Dethloff, Atmosphärenphysiker am Alfred- Wegener-Institut, Helmholtz-Zentrum für Polar- und Meeresforschung (AWI) in Potsdam. Er meint damit, dass die Arktis langsam aber unbestreitbar ihr Gesicht verändert: Das arktische Meereis zum Beispiel ist heutzutage viel dünner, jünger und beweglicher als noch vor 40 Jahren und damit besonders empfindlich. Die Eisdecke bricht bei Wind und Wellen leichter auseinander, beginnt früher im Jahr zu schmelzen und bildet sich erst viel später im Herbst oder Winter wieder neu. „Natürlich liegt auf der Hand, dass dieses Schrumpfen auch durch den vom Menschen verursachten Klimawandel beeinflusst wird“, sagt Klaus Dethloff. „Aber im Detail haben wir die Vorgänge zwischen Atmosphäre, Eis und Meer, die zum Rückgang des Eises führen, noch immer nicht richtig verstanden – so nimmt die Eismasse tatsächlich schneller ab, als unsere Klimamodelle es errechnen.“

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Die Arktis unter der Lupe
Klaus Dethloff und seine Potsdamer Kollegin Dr. Annette Rinke sind Pioniere. Bereits Anfang der 1990er Jahre entwickelten sie erste Computermodelle, mit denen sie das Schicksal der Arktis genauer zu verstehen versuchten. Dazu betrachten sie bis heute die arktische Region wie mit einer Lupe. Genauer gesagt, sie entwickeln regionale Klimamodelle, welche die Vorgänge vom Polarkreis bis zum Nordpol mit einer Maschenweite von derzeit 10 bis 20 Kilometern räumlich hoch auflösen. Die Regional-Modelle sind damit viel feiner als globale Klimamodelle, deren Auflösung nicht genügt, um das Nordpolargebiet im Detail zu analysieren. „Regionales Arktis-Modell“, das klingt nach einem Blick durch ein enges Fenster, in eine extreme Region, die für uns in Deutschland kaum von Interesse zu sein scheint. Doch das täuscht. Denn in Sachen Klima sind die Arktis und Europa auf das Engste miteinander verknüpft. Insofern ist die Forschung der Potsdamer im REKLIM-Verbund für alle Menschen in Europa von großem Interesse. „Heute gilt als sicher, dass die Vorgänge und Veränderungen im Norden das Klima in Europa ganz entscheidend beeinflussen“, sagt Klaus Dethloff. „Es sieht so aus, als hätten die langanhaltenden stabilen und teils extremen Wetterlagen, wie wir sie in den vergangenen Jahren erlebt haben, darin eine Ursache“ – zum Beispiel treten Kaltlufteinbrüche in Mitteleuropa oder die schweren Winterstürme in den USA heute häufiger auf. Ganz offensichtlich gibt es eine schicksalhafte Fernbeziehung zwischen den mittleren Breiten und der Arktis.

Die Wetterschaukel zwischen Süd und Nord
Das Wetter und Klima in Europa werden durch weiträumige Luftströmungen und das Zusammenwirken von Hoch- und Tiefdruckgebieten beeinflusst. Ein Motor, der wesentlich zu Witterungsanomalien beiträgt, ist der mit der Polarfront verknüpfte Jetstream. Diese schnelle Luftströmung pfeift zwischen dem 40. und 60. Breitengrad von West nach Ost über der Nordhalbkugel. Der Jetstream mischt zum einen in der europäischen Wetterküche kräftig mit, indem er Tief- und Hochdruckgebiete hin und her schiebt. Zum anderen kann er vor allem im Winter wie ein Schutzschild warme Luftmassen aus dem Süden und kalte Polarluft aus dem Norden voneinander abgrenzen. „Seit einigen Jahren aber beobachten wir immer häufiger, dass im Winter warme Luft aus dem Süden bis tief in die Arktis vorstößt“, sagt Annette Rinke. „An unserer deutsch-französischen Forschungsstation AWIPEV auf Spitzbergen liegen die Temperaturen dann sogar über Null.“ Der Jetstream, so scheint es, legt mittlerweile Pausen ein und versagt in dieser Zeit als Schutzschild. Ausgelöst werden diese Schwächephasen durch eine komplexe Reaktionskette in der Troposphäre, dem unteren Stockwerk der Atmosphäre, und der darüberliegenden Stratosphäre. AWI-Modellierer Dr. Ralf Jaiser hat herausgefunden, dass vereinfacht gesagt, folgendes passiert: Die Kraft und Ausdauer des Jetstreams in der Troposphäre hängen im Winter unter anderem von der Beständigkeit eines zweiten großen Wirbels ab. Dieser Polarwirbel bildet sich zum Ende des Sommers direkt über der Arktis, allerdings ein Stockwerk höher, in der Stratosphäre. Rotiert er mit voller Kraft, erreicht in der Regel auch der Jetstream im Stockwerk darunter Spitzengeschwindigkeiten. Teilt sich jedoch der Polarwirbel, geht dem Jetstream quasi die Luft aus. Nur was kann dem Polarwirbel gefährlich werden? Eine Bedrohung geht von sogenannten planetaren Wellen aus. Gemeint sind großräumige Wellenbewegungen, die in der Troposphäre mit dem Westwind über den Globus wandern. Stößt diese Luftströmung auf ein Hindernis wie etwa ein Gebirge, weicht sie nach oben hin aus. Die Luftmassen darüber schiebt sie dabei gleich mit in die Höhe. Auf diese Weise kann es passieren, dass die Wirkung der aufsteigenden Welle bis in die Stratosphäre hinaufreicht und dort den Polarwirbel eindellt oder sogar teilt. Der Jetstream darunter verliert dann an Kraft und beginnt, im Schlängelkurs über die Nordhalbkugel zu wandern. Er mäandriert dann wie ein Fluss, der sich durch die Landschaft schlängelt, und erlaubt, dass mancherorts warme Luftmassen in die Arktis eindringen, während anderswo kalte Polarluft weit Richtung Süden vorstößt.

Details aus der Arktis, um die Welt zu verstehen
Lange konnten sich Forscher diese komplexen Veränderungen der Luftströmungen nicht wirklich erklären. Dank der Experimente mit mehreren, aufeinander aufbauenden Modellen aber durchschauen sie die Zusammenhänge langsam. So konnten Annette Rinke und ihre Kollegen mit dem regionalen Arktismodell zeigen, dass offenbar die Veränderungen in der Barentssee und Karasee nördlich von Norwegen und Sibirien eine große Rolle spielen. Weil das Meer dort heute wärmer ist, friert es im Spätherbst langsamer zu. Dadurch können im Oktober und November mehr Wärme und Feuchtigkeit aus dem Meer aufsteigen als früher. Über der Region entsteht eine Art Wärmeglocke. Diese Veränderungen übertrugen Ralf Jaiser und seine Kollegen in ein globales Klimamodell, mit dem sie die großräumigen Auswirkungen simulieren. Die Wärmeglocke über dem Meer sowie die zusätzliche Feuchtigkeit führen ihren Erkenntnissen nach zu mehr Schneefall in Sibirien. Wärme und Schnee wiederum verstärken die Hochdruckgebiete zwischen Skandinavien und Sibirien. Der Jetstream wird dadurch nach Süden, teils auch nach Norden abgelenkt. Die Hochdruckgebiete bilden zudem ein Hindernis für planetare Wellen. Wie in einer „Halfpipe“ schießen die aus Westen kommenden Luftpakete hier in die Höhe und erhalten genügend Auftrieb, um den Polarwirbel in der Stratosphäre zu zerstören. Dem Jetstream im Stockwerk darunter wird so quasi der Stecker gezogen. Die Folgen dieser Reaktionskette sind auf der gesamten Nordhalbkugel zu spüren. Zwischen Grönland und Skandinavien stößt warme Luft in die Arktis vor, in Europa und Asien dagegen bibbern die Menschen wochenlang vor Eiseskälte. Zudem schwächen sich die für Europa so wichtigen Westwinde über dem Atlantik ab. So können sich Wetterlagen für längere Zeit über Europa stabilisieren und festsetzen. „Dieses Beispiel zeigt, dass unsere regionalen und globalen Klimamodelle helfen, Rückkopplungsprozesse zwischen der Atmosphäre und dem Meereis-Ozean-System zu verstehen und Zusammenhänge zwischen der arktischen Region und Mitteleuropa zu erkennen und langfristig die Wettervorhersagen zu verbessern“, sagt Annette Rinke.

Mit Messdaten die Modelle schärfen
Noch aber decken sich die Modellergebnisse der Potsdamer Wissenschaftler nicht hundertprozentig mit der Realität. Es ist deshalb wichtig, die Modelle mit realen Messwerten zu speisen, damit sie so naturgetreu wie möglich arbeiten. Doch für die Arktis gibt es nur von sehr wenigen Orten Messwerte. Ende der 1990er Jahre etwa kooperierten die Potsdamer mit russischen Forschern, die sich in jedem Winter auf einer großen Eisscholle durch die Arktis treiben ließen, um dort Atmosphäre, Eis und Meer zu vermessen. Auch diese Daten sind in das regionale Arktis-Modell eingeflossen. „Je mehr Messwerte wir haben, desto besser können wir die Prozesse in der Arktis physikalisch beschreiben. Stück für Stück werden die Modelle dadurch genauer“, sagt Annette Rinke. Um ihre Modelle zu perfektionieren, wollen die AWI-Forscher künftig auch Daten nutzen, die während der bislang größten, internationalen Expedition in die zentrale Arktis – Projektname MOSAiC – gesammelt werden sollen: Das deutsche Foschungsschiff FS Polarstern wird sich im September 2019 im Meereis der Ostsibirischen See einfrieren lassen und ein Jahr lang mit dem Eis über den Arktischen Ozean treiben. Mehrere hundert Wissenschaftler aus 17 Ländern werden in dieser Zeit Meer, Eis und Atmosphäre vermessen und einzigartige Daten sammeln. „Wir hoffen, die Vorgänge in der Arktis zwischen Atmosphäre und Meer damit künftig deutlich besser simulieren zu können; und auch zu klären, wann oder warum es dort mal mehr oder weniger Eis gibt“, sagt Annette Rinke. „Denn davon wird entscheidend abhängen, wie sich das Klima und das Wetter in den kommenden Jahrzehnten bei uns entwickeln.“

VORAUSGEDACHT

„Was wollen wir in den kommenden 10 Jahren erreichen? Wir arbeiten an einem hochauflösenden Erdsystemmodell, welches neben der Atmosphäre, dem Eis und dem Ozean auch chemische Prozesse sowie Vegetations- und Permafrost-Dynamiken berücksichtigt. Damit wollen wir verlässlichere Aussagen über die Variabilität und die Veränderungen des arktischen Klimas erreichen.“

ANNETTE RINKE
Klimamodelliererin am Alfred-Wegener-Institut, Helmholtz-Zentrum für Polar- und Meeresforschung (AWI)

Praxisbezug

Die Jahreszeitenvorhersage verbessern

Regionale Modelle wie das AWI-Arktismodell helfen dabei, globale Klimarechnungen zu verbessern. Von dieser Optimierung profitieren auch Institutionen wie der Deutsche Wetterdienst (DWD), der seit 2016 eine Jahreszeitenvorhersage als operationellen Klimaservice anbietet und diesen über ein Webportal zugänglich macht, sagt die DWD-Meteorologin Dr. Barbara Früh.

Die Forscherinnen und Forscher am Alfred-Wegener-Institut versuchen herauszufinden, wie die Klimaänderungen in der Arktis mit dem Wetter und dem Klima in Mitteleuropa verbunden sind. Dafür setzen sie regionale Klimamodelle ein, die die Arktis räumlich genauer auflösen als die globalen Modelle. Inwieweit können diese detaillierten Modellierungen Ihre Arbeit unterstützen?

Barbara Früh: Eine genaue räumliche Auflösung hilft dabei, die physikalischen Prozesse in der Arktis und die Eisdynamik im Detail besser zu verstehen. Das Wissen um diese Mechanismen kann dann genutzt werden, um die globalen Klimamodelle zu verbessern. Es ist so, dass die globalen Klimamodelle bestimmte physikalische Vorgänge für die Arktis nicht im Detail berücksichtigen. Betrachtet man die natürlichen Prozesse aber genauer, dann kann man ein besseres Verständnis darüber entwickeln und eine verbesserte statistische Beschreibung dieser Prozesse, wir nennen das Parametrisierung, in die globalen Modelle einfließen lassen.

Und inwieweit kann der Deutsche Wetterdienst von dieser grundlegenden Verbesserung der globalen Klimamodelle profitieren? Immerhin müssen Sie ja Vorhersagen für eine relativ kleine Region treffen, nämlich Deutschland beziehungsweise Mitteleuropa.

Dank verbesserter globaler Modelle können wir natürlich auch die Situation für unsere Region besser einschätzen. Der Deutsche Wetterdienst berechnet seit 2016 zusammen mit der Universität Hamburg und dem Max-Planck-Institut für Meteorologie Jahreszeitenvorhersagen und bietet diese über ein Webportal an. Dieses ist öffentlich und gibt für die nächsten Monate im Voraus eine Abschätzung, wie sich die Witterung höchstwahrscheinlich entwickeln wird. Die Nutzer werden über einen „Feedback“-Button explizit dazu aufgefordert, die Leistung des Portals zu bewerten. Im Detail gibt das hinter den Jahreszeitenvorhersagen liegende Klimarechenmodell eine Vielzahl realistischer Prognosen ab, die insgesamt Rückschlüsse darüber zulassen, mit welcher Wahrscheinlichkeit die kommenden drei Monate zum Beispiel trockener oder feuchter, wärmer oder kälter als im langzeitlichen Mittel werden. Die Jahreszeitenvorhersage ist eine fortlaufende, operative Aufgabe des DWD, bei der wir das speziell angepasste Klimarechenmodell ständig verbessern. Um es auf den Punkt zu bringen: Je besser das zugrundeliegende globale Modell ist, desto sicherer wird künftig auch die Jahreszeitenvorhersage sein.

Das heißt also, dass Sie die Erkenntnisse aus der Arktis nicht direkt nutzen?

Das ist richtig. Obwohl wir wissen, dass die Arktis und Europa über sogenannte Telekonnektionen miteinander verbunden sind, benötigen wir das globale Modell, um alle Einflussfaktoren zu berücksichtigen, die in Mitteleuropa das Wetter bestimmen. Etwa die Entwicklung der Hoch- und Tiefdrucklage über dem Atlantik. Dennoch sind die Erkenntnisse, die mit regionalen Modellen wie dem regionalen Arktismodell gewonnen werden, sehr wichtig, um den Gesamtzusammenhang besser zu verstehen.

KOMPAKT

  • Durch die Abnahme des arktischen Meereises gelangen mehr Wärme und Feuchte aus dem Meer in die Atmosphäre. Dadurch verändern sich Luftströmungen zwischen der Arktis und den mittleren Breiten – und so auch das Klima in Europa.
  • Um die Entwicklung der Arktis besser vorhersagen zu können, wurden regionale Klimamodelle entwickelt. Sie stellen die Prozesse und Wechselwirkungen zwischen Ozean, Eis und Atmosphäre genauer dar als globale Klimamodelle.
  • Der Meereis-Rückgang kann zu weiträumigen Temperatur- und Luftdruckänderungen führen. In Europa, aber auch in Asien und Nordamerika kann es im Winter vermehrt zu Kaltlufteinbrüchen kommen, in der Arktis dagegen wird es wärmer.

Beteiligte Helmholtz-Forschungszentren: AWI, GEOMAR, HZG, KIT, UFZ