Den Klimawandel vor der Haustür verstehen

Den Klimawandel werden Menschen künftig zuallererst an Veränderungen in ihrer vertrauten Heimat wahrnehmen. Im Forschungsverbund REKLIM arbeiten deshalb Experten von neun Helmholtz-Zentren und verschiedenen Universitäten daran, die regionalen Folgen des Klimawandels genauer zu verstehen. Ein weiteres Ziel ist zudem, das Fachwissen direkt der Öffentlichkeit und gesellschaftlichen Akteuren zur Verfügung zu stellen. (Text: Tim Schröder)
Von Berlin bis zum nördlichen Polarkreis sind es rund 1 500 Kilometer. Eine ziemlich weite Strecke, könnte man meinen. Genau genommen aber liegt die Arktis dichter vor unserer Haustür als zum Beispiel Madrid, weshalb gerade wir Mitteleuropäer uns angesichts der starken Klimaveränderungen im hohen Norden die Frage stellen müssen: Wie wird sich der Klimawandel in unserer Heimat auswirken?

Dieser drängenden Frage gehen die Wissenschaftler des Forschungsverbundes Regionale Klimaänderungen (REKLIM) nach, einen Zusammenschluss von Forschenden aus neun Helmholtz-Zentren und verschiedenen Universitäten. „Das Tolle an diesem Verbund ist, dass wir Wissenschaftler aus Fachgebieten zusammenbringen, die normalerweise so nicht miteinander arbeiten. Dadurch können wir ganz neue Erkenntnisse gewinnen“, sagt der AWI-Geophysiker und REKLIM-­Geschäftsführer Dr. Klaus Grosfeld. Insgesamt acht Forschungsschwerpunkte gibt es in ­REKLIM – etwa zum Meeresspiegel und dessen Auswirkungen auf die Küstenregionen oder zur Zusammensetzung der Atmosphäre und deren Wirkung auf das Klima.
Wie schnell ändert sich das Klima?

Von besonderem Interesse sind zum Beispiel die sogenannten abrupten Klimaveränderungen. Klaus Grosfeld erklärt, was es damit auf sich hat: „Klimawandel hat es im Laufe der Erdgeschichte schon immer gegeben. In der Regel läuft dieser langsam innerhalb von ­Jahrtausenden ab. Wissenschaftliche Ergebnisse aber deuten darauf hin, dass es immer wieder Phasen gab, in denen sich das Klima innerhalb weniger Jahrzehnte massiv geändert hat.“
Diese Erkenntnis ist beunruhigend, denn möglicherweise stehen der Menschheit mit dem anthropogenen Klimawandel schon in naher Zukunft genau solche abrupten Änderungen ins Haus. „Wir gehen davon aus, dass es bestimmte Punkte gibt, an denen das Klima­system plötzlich in einen neuen Zustand kippt“, sagt Klaus Grosfeld.
Da die Zukunft nicht bekannt ist, blicken die Wissenschaftler in die Vergangenheit. Im ­REKLIM-Schwerpunkt „Schnelle Klima­ände­rungen aus Proxy-Daten“ versuchen sie, Phasen der Erdgeschichte zu finden, in denen es solche Kipppunkte gab. Die Hoffnung: Versteht man die Vergangenheit besser, lässt sich eventuell abschätzen, ob wir mit dem aktuellen Klimawandel auf solche Kipppunkte zusteuern.
Die Fragestellung ist anspruchsvoll und lässt sich nur beantworten, wenn Experten verschiedener Fachgebiete zusammenarbeiten. REKLIM macht dies möglich. Bei der Suche nach abrupten Klimaveränderungen in der Vergangenheit spielen marine Sedimente eine wichtige Rolle. Je nach klimatischen Bedingungen leben im Wasser andere Organismen. Sterben diese, sinken sie ab. Reste von ihnen werden im Sediment eingelagert. Legt man diese Schichten frei, kann man analysieren, wann bestimmte Organismen lebten und welche klimatischen Bedingungen zu dieser Zeit geherrscht haben müssen.
Der AWI-Geologe Prof. Dr. Ralf Tiedemann ist einer der Experten, die in den Sedimenten lesen können. Er ist auf Meeressedimente spezialisiert. „Ein Problem für uns besteht darin, dass es immer nur Daten von wenigen Messpunkten gibt. Damit lässt sich schwer abschätzen, ob Klimaänderungen nur regional oder global auftraten. Wir verfügen zum Beispiel über Daten aus dem Atlantik oder dem Pazifik – aber nicht aus Mitteleuropa“, so der AWI-Experte.
Deshalb kooperiert er in REKLIM mit Prof. Dr. Achim Brauer vom Deutschen GeoForschungs­Zentrum (GFZ) in Potsdam, der seit vielen Jahren an Sedimenten in Seen arbeitet – etwa am Ammersee und an Seen in Italien. Gemeinsam vergleichen sie ihre jeweiligen Informationen über Klimaänderungen mit jenen Daten, die AWI-Glaziologen und Experten der Universität Heidelberg jahrtausendealten Eisbohr­kernen entnommen haben. Drei Quellen geben schließlich mehr Gewissheit als eine. 
Kooperation erlaubt neue Entdeckungen

Doch REKLIM bietet noch mehr. Die gewonnenen Daten werden gemeinsam mit den Klimamodellierern am AWI diskutiert. Sie simulieren damit das Klima der Vergangenheit. Inzwischen gibt es einige interessante Ent­deckungen: Offenbar gab es in der Phase vor der letzten Eiszeit zunächst lange Warm­perioden von mehreren 1 000 Jahren, die innerhalb weniger Jahrzehnte in sehr kalte Phasen kippten. Dann folgten umgekehrt lange kalte Phasen, die innerhalb kurzer Zeit wieder in Warmphasen umschlugen, bevor schließlich die ganze kalte Phase der Eiszeit begann und weite Teile der Nordhalbkugel vergletscherten.
Der Vergleich der Daten aus Meeressedimenten, Seesedimenten und Eisdaten zeigt, dass es während der abrupten Übergänge auf der ganzen Nordhalbkugel auffällige Änderungen in den Meeresströmungen und in der Atmosphäre gab. „Ohne REKLIM hätten wir solche Ergebnisse kaum erzielen können“, sagt Achim Brauer vom GFZ. „Durch die Netzwerk-Treffen lernt man die anderen Kollegen und ihre Arbeit viel besser kennen. Außerdem schafft der Verbund eine Verbindlichkeit, welche die Zusammenarbeit beflügelt. Das ist etwas anderes als beim Kaffee locker zu verabreden, dass man künftig zusammenarbeiten könnte.“

Den regionalen Klimawandel umfassend bearbeiten Was die Zusammenarbeit zwischen den verschiedenen Disziplinen und die Themenvielfalt angeht, hat REKLIM eine enorme Spannbreite zu bieten. Zwei Beispiele: Im Schwerpunkt „Gekoppelte Modellierung regio­naler Erdsysteme“ werden neue Methoden entwickelt, mit denen die Forscher künftig besser modellieren wollen, wie sich der globale Klimawandel regional auswirkt. Im Schwerpunkt „Modellierung und Verständnis extremer meteorologischer Ereignisse“ befassen sich die Experten mit extremen Wetter­ereignissen wie Hagelschauern. Solche Einzelereignisse können Versicherungsschäden in Milliardenhöhe verursachen – durch Zerstörung von Solaranlagen, Glasdächern oder Verluste in der Landwirtschaft. Geklärt werden soll unter anderem, wie man künftig damit umgehen kann, wenn solche Wetter­extreme zunehmen. „Eine solche Vielfalt und Verknüpfung regionaler Klimaaspekte wie in diesem Netzwerk gibt es in ganz Europa sonst nicht“, sagt REKLIM-Geschäftsführer Klaus Grosfeld.
Das Wissen nach außen tragen

Die Erforschung des regionalen Klimawandels ist vor allem auch deshalb interessant, weil er den Alltag der Menschen unmittelbar betrifft. Ein Ziel von REKLIM ist es deshalb, die neuesten Erkenntnisse in die Öffentlichkeit zu tragen – beispielsweise mit dem Kooperationsprojekt „klimafit“, das im März 2017 vom REKLIM-Verbund gemeinsam mit der Naturschutzorganisation WWF und den regionalen Bildungsträgern fesa e.V. und ifpro gestartet wurde. „Dieses Projekt verfolgt das Ziel, das Expertenwissen an Multiplikatoren in Weiterbildungskursen an Volkshochschulen weiterzugeben – an Architekten, Landwirte, Stadtplaner, Pädagogen oder auch die Klimaschutzmanager der Kommunen“, so Dr. Renate Treffeisen, klimafit-Koordinatorin in REKLIM und Leiterin des Klimabüros für Polargebiete und Meeresspiegelanstieg am AWI.
Neben Grundlagenwissen über den Klimawandel vermitteln die Kurse auch Lösungen, mit denen sich die Menschen in der Region an den Klimawandel anpassen können. „Ein solches Projekt ist in Deutschland bislang einzigartig“, sagt Bettina Münch-Epple, Leiterin des Bildungsbereichs beim WWF. „Der Kurs setzt stark auf das „blended learning“-Konzept. Das heißt, wir arbeiten sowohl mit Dozenten vor Ort als auch mit Klimaexperten, die per Video zugeschaltet werden.“ Dass die Teilnehmer einen direkten Draht zu den Wissenschaftlern haben, mache diesen Kurs besonders wertvoll.
 „klimafit“ startet derzeit in sechs Kommunen in Südwestdeutschland. Die Region hat bereits heute mit den Folgen des Klimawandels zu kämpfen. „In manchen Regionen in Baden-Württemberg beträgt die Erderwärmung mehr als 1.5°C.“, sagt Bettina Münch-Epple. Das wirke sich auf die Landwirtschaft aus. Die Zahl der extrem heißen Tage habe ebenso zugenommen wie Starkregen­ereignisse und Unwetter. „Im vergangenen Jahr fand ein erster Test des Kurses in der Kreisstadt Emmendingen bei Freiburg statt. Er ist bei den Teilnehmern so gut angekommen, dass wir vom Erfolg dieses Projektes überzeugt sind“, betont Renate Treffeisen. In den kommenden Jahren sollen die Kurse dann in weiteren Regionen Deutschlands etabliert werden. „Wir möchten eine Lawine anstoßen“, sagt Klaus Grosfeld, „damit das Thema Klimawandel die ganze Gesellschaft durchdringt. Das hat den schönen Nebeneffekt, dass die Forscher, die in REKLIM beteiligt sind, spüren, dass ihr Wissen benötigt wird.“

„Die Antwort auf die Frage, wie viel Geld wir für den Klimaschutz in die Hand nehmen müssen“

Bremen und Bremerhaven wollen in Kürze eine neue Strategie zur Anpassung an den Klimawandel verabschieden. Dabei geht es unter anderem um den Schutz vor Hochwasser oder Hitzewellen. Bei der Ausarbeitung der Maßnahmen wurden die Behörden durch REKLIM-Experten unterstützt. Dr. Christof Voßeler, bei der Freien Hansestadt Bremen für Klimaanpassung und Offshore-­Windenergie zuständig, erläutert, warum der Austausch mit externen Fach­leuten so wichtig ist. Herr Voßeler, eine Anpassungsstrategie ist ein Großprojekt mit vielen Maßnahmen. Was ist zu bedenken, um eine Stadt wie Bremen auf den Klimawandel vorzu­be­reiten?
Als Küstenstandort steht natürlich der Schutz vor Hochwasser im Vordergrund. Wir erwarten aber auch eine Zunahme von Starkregenereignissen. Davon sind vor allem Aspekte der Stadtentwässerung und der Stadtplanung berührt. Auch wenn wir in Norddeutschland ein gemäßigtes Klima haben, erwarten wir außerdem, dass die Zahl und Dauer der Hitzewellen zunehmen. Auch hier ist die Stadtplanung gefragt: So ist zu überlegen, wie man zum Beispiel durch Erhalt von Frischluftschneisen und Grünflächen die bioklimatische Situation bei Hitze erhalten oder sogar verbessern kann. Hier kommen sehr viele Aspekte zusammen, bei denen wir auch auf die Unterstützung durch externe Experten angewiesen sind.

Inwiefern benötigen Sie Expertise von außen?
Als Behörde müssen wir Entscheidungsgrundlagen vorbereiten; für Entscheidungen darüber, welche Maßnahmen wir heute für die Zukunft umsetzen sollen, obwohl die Folgen des Klimawandels noch nicht mit Sicherheit vorauszusehen sind. Die Politik muss dann entscheiden, wie viel Geld wir heute für die Zukunft in die Hand nehmen. Beispielsweise ist noch nicht völlig klar, wie sich der Meeresspiegelanstieg in unserer Region ausprägen wird. Dank der Gespräche mit den REKLIM-Kollegen und deren aktuellen wissenschaftlichen Erkenntnissen, wissen wir, dass der Meeresspiegel trotz aller Unwägbarkeiten höher ausfallen könnte, als noch vor wenigen Jahren erwartet. Sollten sich diese Analysen weiter bestätigen, kann sich das Land vorbereiten und den Hoch­wasserschutz rechtzeitig anpassen.

Wäre es dann nicht sinnvoll, schon heute für den „worst case“ zu planen?
Beim Hochwasserschutz werden bereits sehr weitgehende Risikoszenarien eingerechnet. Generell müssen wir aber bei allen Themen der Klimaanpassung über Jahrzehnte in die teils ungewisse Zukunft planen. Die Anpassung an den Klimawandel steht als Langfrist-Thema zudem im täglichen politischen Diskurs in Konkurrenz zu Themen wie Bildung, Migration oder Kita-Plätzen, die kurzfristig zu lösen sind. Wie viel Geld sollten und können wir heute der Klimaanpassung widmen? Bei der Kostenschätzung und Nutzenbewertung ist das Wissen von außen enorm wichtig, um in der Diskussion eine stichhaltige Abwägungs- und Argumenta­tionsgrundlage zu haben.

„Wissenschaft“ und „Behörde“ sind zwei verschiedene Welten. Wie klappt es da mit der Verständigung?
Erstaunlich gut. Ich bin im Jahr 2015 durch die REKLIM-­Konferenz hier in Bremen auf REKLIM aufmerksam geworden. Mich hat damals die Praxisnähe und Verständlichkeit der wissenschaftlichen Vorträge begeistert. Daraus ist dann ein engerer Kontakt entstanden. Andererseits denken wir zum Teil anders als Forscher. Wissenschaftler versuchen zum Beispiel einzuschätzen, wie stark der Meeresspiegel steigen wird – und geben eine Spannweite für die mögliche Zunahme an. Wir denken auch an die Konsequenz und Umsetzbarkeit von Maßnahmen und fragen uns, wie lange einzelne Maßnahmen den gewünschten Schutz gewährleisten. Solche Schwellen, bei denen Maßnahmen umgesetzt werden müssen, kann man nicht einfach aus den wissenschaftlichen Daten ableiten. Inzwischen kennen wir die Denkweise des jeweils anderen aber sehr gut.

Der Beitrag auf dieser Seite stammt aus dem Magazin des Alfred-Wegener-Instituts "Auf den Spuren des Wandels - Klimaforschung in den Polarregionen".
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Kompakt

  • Im REKLIM-Verbund arbeiten Experten aus neun Helmholtz-Zentren und mehreren Universitäten gemeinsam daran, die Folgen des Klimawandels für die Regionen in Mitteleuropa und z. B. in der Arktis einzuschätzen.
  • Eine Stärke des REKLIM-Verbundes ist sein interdisziplinärer und zentrenübergreifender Ansatz. Auf gemeinsamen Veranstaltungen kommen die Forschenden aus verschiedenen Fachgebieten zusammen und finden oft gemeinsam neue Antworten auf wissenschaftliche Fragen.
  • REKLIM-Experten verstehen es als ihre Aufgabe, ihr Fachwissen der Gesellschaft zur Verfügung zu stellen – etwa durch beratende Tätigkeiten, durch öffentliche Klima­kurse oder durch Infoportale im Internet. 

meereisportal.de

343296 MAL wurde die Website meereisportal.de vom 1. Januar 2015 bis 31. Dezember 2017 angeklickt, Tendenz steigend. Das Meereisportal ist in REKLIM entstanden und trägt dazu bei, Expertenwissen in die Öffentlichkeit zu bringen. Es liefert aktuelle Daten über den Zustand und die Ausdehnung des Meereises in der Arktis und Antarktis und ist bei privaten Nutzern und Wissenschaftlern gleichermaßen beliebt.

Wer wissen teilt, lernt am meisten

Das Klimasystem unserer Erde ist so komplex, dass es Experten verschiedener Disziplinen braucht, um es zu verstehen. Der Helmholtz-Forschungsverbund REKLIM bringt sie zusammen. Hier kooperieren Geologen, Gletscherexperten und Luftchemiker, Hydrologen und Atmosphärenphysiker, Permafrost-Fachleute und Modellierer. Ihr gemeinsames Ziel: die regionalen Auswirkungen des Klimawandels verstehen und vermitteln. (Foto: André Künzelmann)

Reden ist Silber, diskutieren ist Gold

Auf den jährlichen REKLIM-Konferenzen bleiben die Forschenden schon lange nicht mehr unter sich. Inzwischen sind bis zu 80 Prozent der ­Teilnehmenden politische Entscheidungsträger, Behör­denvertreter, Umweltschützer und andere gesellschaftliche Akteure, die von den Experten Antworten auf Fragen zum regionalen Klimawandel benötigen. (Foto: Ernst Fesseler)

Der Klimawandel braucht viele Bühne

Um die Menschen in den Städten und Gemeinden für die Veränderungen vor ihrer Haustür zu
interessieren, lässt sich das Team der REKLIM-Geschäftsstelle viel einfallen. Es zeigt Filme auf der Berlinale, setzt mit Studierenden Medienprojekte um, informiert Politiker und veranstaltet zusammen mit Projektpartnern die Volkshochschul-Reihe „klimafit“ – ein Kurs für alle, die wissen wollen, was uns in Sachen Klima zukünftig erwartet. (Foto: Bärbel Kosanke)